ars*ego

Die Kunst, ein Ich zu sein. 

#01-#16

Ich weiß, dass die Wahrheit in den Dingen liegt und nicht in meinem Geist, der sie beurteilt, und dass ich, je weniger ich von mir in den Urteilen antreffe, die ich über sie fälle, um so sicherer bin, mich der Wahrheit zu nähern.

Jean-Jacques Rousseau
aus: "Emile oder Über die Erziehung", 1762


# 01 Totengräber

Der „Totengräber“, ein Käfer der Gattung Nicrophorus, macht es uns vor. Mit seinen 12 – 18 mm Länge beerdigt er tote Vögel, Eidechsen, Mäuse und andere Kreaturen, indem er sie regelrecht „unter die Erde bringt“, damit sie planmäßig verwesen und seinen Larven die notwendige Nahrungsgrundlage bieten. Doch noch immer tut man sich schwer, in dieser Käferexistenz etwas Vorbildhaftes zu sehen, und sei es nur als Metapher. Noch immer ist jegliches „Ungeziefer“ den Insektiziden ausgeliefert, die uns letztlich die Lebensgrundlagen zerstören werden. So ist der Mensch nicht nur des Menschen Wolf, sondern auch ein Totengräber seiner selbst.

# 02 Elf kleine Ideale

„Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist“ - diese hehre Forderung Friedrich Schillers von 1795 mutet heute arg antiquiert an, huldigt sie doch einem Ideal, das überwunden scheint. Gegen den Strom zu schwimmen, gar schicksalhaft darin unterzugehen, widerspricht allzusehr der gegenwärtig empfundenen „Notwendigkeit“, dass Künstler*innen sich den drängenden Problemen der Gegenwart anzunehmen hätten. Ja, dass sie darin erst eine Rechtfertigung für ihr Ego und ihre Arbeit fänden.

# 03 Selbst Renaissance

„Sich selbst immer wieder neu zu erfinden“ ist eine populäre, aber oft auch leichtfertige Forderung an den zeitgenössischen Menschen, der sich als Teil einer rasanten Weltveränderung erlebt, die stetige Anpassung erfordert und die Geschwindigkeit kontinuierlich und schmerzhaft erhöht. „Renaissance“ - als Wiedergeburt verstanden, ist demgegenüber das Ergebnis einer tiefergehenden Wandlung, die alle Teile des Selbst betrifft und weniger schockhaft als vielmehr notwendig sein kann, weil sie Ziel eines organischen Werdens ist. Auch, wenn sie einen „Sprung ins Wasser“ notwendig machen sollte.

# 04 Messerschmidt All in One

Die heute sattsam überstrapazierte Sentenz „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“ formulierte schon vor rund 250 Jahren mit treffender, drastischer Konsequenz und Dramatik der Bildhauer Franz Xaver Messerschmidt. Seine Skulpturen sind „Wahngebilde und Kunstwerke zugleich“. Im Abweichen von den Gesetzen der Vernunft und des physiologisch Möglichen zeigte er, was alles in seinem Ich steckt, was alles hinter der Fassade des Menschen sichtbar werden kann.

# 05 L'Assimilation de Vautier

Arthur Rimbaud skizzierte mit der Sentenz „Ich ist ein Anderer“ sein Bedürfnis nach Auflösung im Anderen, seinem Geliebten Paul Verlaine. Die Aktion „Regardez moi, cela suffit“ („Schaut mich an, das ist genug“) von Ben Vautier blickte ebenfalls auf ein Gegenüber. Im Schauen auf den Anderen, nämlich den Betrachtenden, brachte Vautier nicht sich, sondern sein Gegenüber ins Spiel und Bewusstsein. Er konterkarierte so die Selbstbezüglichkeit des traditionellen Künstleregos.

# 06 fifty ways to leave your mother

Das Gespinst, dass Mütter und Väter um ein junges Ich spinnen, haftet schwer. In welcher Patchwork – oder konventionellen Konstellation auch immer: Es ist eine Verstrickung, der man sich, auch bei noch so weicher Wolle, über kurz oder lang entledigen will – auch wenn man sich das Gespinst, oder diesen Angorapullover aus Liebe, mitunter immer wieder gern überzieht. Der Kampf, das Gelingen oder Scheitern solcher „Befreiungsbestrebungen“, wird trotz aller Fortschritte vermutlich nie zur Ruhe kommen.

# 07 Rohrschachs Nominalismus

Was ist das Ich? Ist es nur ein abstrakter Begriff, der allein als Idee besteht und keine Wirklichkeit besitzt? Sind Menschen lediglich Kreaturen – so wie beispielsweise Insekten? Man kann die Anzahl der Menschen bestimmen, aber ist deren Individualität, deren Ich-Bewusstsein nur eine Konstruktion ihres Geistes?

# 08 Schlange Mnemosyne

Sich zu erinnern, bedeutet in die Vergangenheit zu sehen. Über das Ich zu sprechen, heißt über die Vergangenheit zu reden. Wenn überhaupt, kann ich mein Ich in der Vergangenheit erkennen und darüber berichten, allerdings nur sehr bruchstückhaft. Mal mit scharfen, mal unscharfen Bildern oder Gedankensplittern.

# 09 Vor Augen stehen

Schaut mich das, was ich anschaue, ebenfalls an? Die Ambivalenz zwischen dem „in Augenschein nehmen“ und dem Gefühl „angeschaut zu werden“, bestimmt nach wie vor unser Denken und den anthropozentrischen Blick. Eben derselbige lässt uns annehmen, „dem Anderen“ - und sei es nur einem Fisch an der Scheibe des Aquariums - ins Auge zu schauen, ja, sogar von ihm „angeschaut zu werden“. Dass man dabei – wie bei vielen Dingen - die eigene Denk- und Sichtweise dem Wahrgenommenen überstülpt, und ihm, dem Fisch, ein eigenes Denken unterstellt, gibt zu denken. Solche Wahrnehmung, die zur Vereinnahmung wird, veranlasst uns, die Nasen an nahezu allen Scheiben im Aquarium plattzudrücken.

# 10 Zwei alte Meister

Wie stehe ich zum Leben und zum Tod? Ist es besser, den Tod zu ignorieren, für mich selbst eine Unsterblichkeit anzunehmen, die mir göttergleich gestattet, ihn beiseite zu schieben, oder sollte ich stets im Angesicht der Tatsache leben, dass es morgen vorbei sein könnte? Auch daraus könnte ich Kraft schöpfen. Sich zwischen den Extremen zu positionieren, sich die letztliche Undurchschaubarkeit dieser Fragen zu vergegenwärtigen, ist vielleicht lebensklüger, weil ich mich dabei nicht mit der Undurchsichtigkeit meiner Innenwelt herumärgern muss.

# 11 Das schlagende Herz

Die „Rose von Jerichow“, eine unscheinbare Wüstenpflanze aus dem Heiligen Land, versinnbildlichte seit den Zeiten der Kreuzzüge die Geburt Christi. Denn sie erwachte, wenn man sie ins Wasser stellte, selbst nach Jahren absoluter Trockenheit, binnen kürzester Zeit wieder zum Leben. Dieses verblüffende Phänomen verschaffte ihr „alle Jahre wieder“ das Privileg, in den Weihnachtszimmern der westlichen Welt zu erblühen. Als es im Laufe des letzten Jahrhunderts infolge stetiger Nachfrage zu Lieferengpässen kam, trat an ihre Stelle die „Unechte Rose von Jerichow“, eine Art Doppelgänger, den gewitzte Händler in den Wüsten von Arizona bis El Salvador ausfindig machten. Es gibt doch für jedes Problem eine Lösung, wenn man nur das Herz am rechten Fleck hat.

# 12 Die Zeiten meiner Brillen

Brillen sind ein optisches Hilfsmittel, das Produktivität und Leistungsvermögen steigert. René Descartes bemerkte schon: „Unsere gesamte Lebensführung hängt von unseren Sinnen ab, und weil der Sehsinn der umfassendste und edelste von ihnen ist, gehören zweifellos alle Erfindungen, die seine Leistung steigern, zu den nützlichsten, die man sich denken kann.“ Brillen sind heute integraler Bestandteil des Lebens, allerdings werden sie auch gern als Symbol für eine einseitige Sichtweise gesehen, was sich im Sprachgebrauch widerspiegelt. Die „rosarote Brille“ steht beispielsweise für eine idealisierende, teils irreale Haltung, wie sie insbesondere für Träumer, Lebenskünstler oder Fortschrittsgläubige typisch sein kann. Oder ist solch eine Brille nur Ausdruck einer positiven Lebenseinstellung?


# 13 Mein Leichentuch

Der Traum vom eigenen Tod ist, entgegen mancher Annahmen, wenn nicht ein gutes, so doch ein starkes Zeichen, was aufmerken lässt, weil es Wandlung, Transzendenz und die Verheißung eines Neubeginns in sich trägt. Ganz so, wie traditionsgemäß der Tod des Christus die Auferstehung mit einschließt. Der Anblick der Vergänglichkeit eines Leichnams, ob im Traum, in einem Bild oder gar in der Realität, lässt schwache Gemüter jedoch in aller Regel zweifeln. Der russische Autor Dostojewski meinte sogar, allein der Anblick von Hans Holbeins Bild „Der Leichnam Christi im Grabe“ habe die Kraft, den Glauben auszulöschen.

# 14 Leben und Erwartung

 „Wer einmal ein Mensch ist, der kann überhaupt nicht das Allervortrefflichste werden, und er kann gar keinen Antheil haben am Wesen des Besten. Das Allervorzüglichste wäre also für euch samt und sonders, Männer wie Weiber, gar nicht geboren zu werden. Das Nächstbeste jedoch – nachdem ihr geboren worden, möglichst bald zu sterben.“ Diese sehr pessimistische, geradezu dystopische Sichtweise des antiken Philosophen Aristoteles mag man heute nicht mehr teilen. Auch wenn das, was uns erwartet, etwas anderes ist als das, was wir gemeinhin vom Leben erwarten. Es ist doch ein Glück, dass der Blick in die Zukunft – trotz aller Statistik, aller Algorithmen und selbstlernender Computerprogramme – noch immer ungewiss ist.


# 15 Kommentare zu Montaigne

Der Philosoph Montaigne machte zu seiner Zeit die Skepsis salonfähig – und das in einer Zeit der Umbrüche. Sein Wahlspruch „Was weiß ich?“ ist heute mehr als aktuell. Und so wie Montaigne, der Texte von Klassikern kommentierte und in skeptischer Weise hinterfragte, um darin seine eigenen Positionen darzulegen, tat ich es auch, wollte seine Methode auf ihn selbst anwenden. Mir wurde dabei klar, was er schon rund 300 Jahre zuvor in den Essais formulierte: "Wir trachten nach anderen Lebensformen, weil wir die unsere nicht zu nutzen verstehen. Wir wollen über uns hinaus, weil wir nicht erkennen, was in uns ist. Doch wir mögen auf noch so hohe Stelzen steigen - auch auf ihnen müssen wir mit unseren Beinen gehen. Und auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unserem Arsch."

# 16 Geburt von Traum und Rausch

Maßlosigkeit und Rausch des Dionysos beschrieb Friedrich Nietzsche im Gegensatz zur Regelhaftigkeit, maßvollen Begrenzung und Schönheit des Apoll, der die Erhaltung des Individuums gegenüber der Auflösung des Ich in der Masse repräsentierte. Beide Elemente in Verschränkung ermöglichen erst das „Wonnegefühl des Daseins“. Sind sie auch heute noch Faktoren der menschlichen Existenz?